Reisen in Tyria: Kapitel sechs

von Vikki am 12. Januar 2017

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Auf der diesjährigen MomoCon hielten Mitglieder des Narrative-Teams ein Panel zu den Grundlagen des Narrative Designs für Guild Wars 2 ab. Mithilfe des Publikums erstellten sie ein grundlegendes Konzept für Vikki und ihre Moa-Tiergefährtin Momo, die Rata Sum verlassen haben, um Tyria zu erkunden. In den vorherigen Kapiteln erfahrt ihr mehr über die beiden Charaktere.


„Lasst mich los!“, forderte ich.

Reflexartig sah ich über meine Schulter. Unter mir ging es hinab nach Götterfels. Die höchsten Spitzen des Friedhofs lagen mindestens sechs Meter unter mir. Vom gepflasterten Hof trennten mich gut und gerne 15 Meter. Ich malte mir aus, was passieren würde, wenn die Norn mein Handgelenk allzu plötzlich losließ und ich den Halt verlöre. Oder wenn sie mir einen Schubs verpasste …

„Wenn ich es mir recht überlege“, fügte ich mit piepsiger Stimme hinzu, „Kann ich erst vom Vorsprung herunter?“

„Darum müsst Ihr Euch keine Sorgen machen.“ Ihre weiche Stimme klang so, als meinte sie: „Jedenfalls jetzt noch nicht.“ „Ich brauche Antworten auf meine Fragen. Wir bleiben hier sitzen, bis ich sie habe.“

Ihr Griff war fest, schmerzte jedoch nicht. Es kam mir so vor, als steckte mein Handgelenk in einer Sphygmomanometer-Handfessel. Ich wehrte mich nicht dagegen. Der Priester war noch immer in der Nähe, doch wenn ich schrie, würde er vielleicht nicht rechtzeitig zur Stelle sein, bevor die Norn mir etwas antat. Selbst wenn es mir gelang, mich loszureißen, hätte sie mich in Sekunden eingeholt. Ich blieb also sitzen und wartete auf den richtigen Moment.

Tonni musste sie geschickt haben. Vielleicht bereute sie ihren Kauf. Oder sie bereute schlicht, mir Geld gegeben zu haben. Ich wusste ja, dass sie erfolgreich war. Aber so erfolgreich, dass sie ihre Drecksarbeit von Vollstreckern erledigen ließ?

„Ihr hättet mich nicht festhalten müssen“, stellte ich klar. „Ihr hättet einfach fragen können. Tonni hat mir ein Angebot gemacht und ich habe es angenommen. Was will sie?“

Die Norn zog ihre Augenbrauen hoch. „Ihr seid nicht im Guten auseinandergegangen, nehme ich an?“

„Nein!“ Ich lief vor Aufregung rot an. Ich hatte Tonni nie etwas getan, doch sie scheute keine Mühen, mir das Leben schwer zu machen. „Sagt ihr, sie kann mit dem Gerät anstellen, was immer sie will. Es ist mir egal. Sie war es doch, die gesagt hat, es sei kaputt. Sie wusste also, was sie kauft.“

Der Griff der Norn ließ etwas nach. Ihre Augen verengten sich. „Das Gerät ist kaputt?“

„Ich … Ich weiß nicht. Als ich es testen wollte, zeigte es unerwartete Werte an.“

Ihr Griff wurde wieder fester. „Ihr habt es getestet?“

„Ich habe es vorgeführt!“ Ein Vogel schwang sich vom nächsten Steindach auf und schlug mit den Flügeln. Ich musste schlucken. Ich wollte nachsehen, ob der Priester mich gehört hatte, doch er war mittlerweile auf der anderen Seite der Gottesstatue. „Deswegen war ich doch dort. Ich hätte es ihr nur nicht verkaufen sollen. Ich dachte, niemand würde es haben wollen. Erst recht nicht, wenn es nicht funktioniert. Ich weiß nicht, was sie Euch erzählt hat, aber ich schätze, ihr Wort steht gegen meins. Es tut mir leid, wenn sie Euch angelogen hat, damit Ihr den ganzen Weg auf Euch nehmt. Das macht sie öfter.“

Noch nie zuvor hatte ich Tonni geradeheraus als Lügnerin bezeichnet. Im wissenschaftlichen Betrieb sind Konzepte wie Lügen verschwommen. Ich lernte dort schnell, dass es auf die Bereitwilligkeit der Leute ankam, an Beweise zu glauben. Konnte ich beweisen, dass Tonni etwas Falsches getan hatte und nun die Schuld auf mich schob? Dass sie es vorsätzlich getan hatte? Würde man mir glauben, auch wenn man keinen Grund hatte, Schlechtes von ihr anzunehmen? Sie war schon immer gut darin, sich herauszureden. Ich hingegen konnte nicht behaupten, dass Reden meine Stärke war.

Zu meiner Überraschung ließ die Norn mein Handgelenk los. Sie lehnte sich zurück, und ihr aggressives Auftreten wich einer entspannten Haltung. Es wirkte so, als ob wir uns zwanglos unterhielten. „Das klingt nach einer zerrütteten Freundschaft“, stellte sie fest. Sogar ihre Stimme wurde freundlicher. Verständnisvoll sogar.

Das gefiel mir nicht. „Nein, so ist es nicht. Ich möchte lieber nicht darüber sprechen, wenn es recht ist. Von solchen Dingen erfährt sie letzten Endes nur. Besonders von Leuten, die für sie arbeiten.“ Ich rannte den Absatz herunter auf die Straße. Irgendwie rechnete ich damit, dass sie mir nachlief.

„Wer sagt, dass ich für Tonni arbeite? Ich suche nach ihr.“

Der Adrenalinrausch ließ nach. Was blieb, war ein Gefühl von Zorn und Gereiztheit. „Warum habt Ihr mir dann so einen Schreck eingejagt? Was soll das alles?“

„Das Gerät, dass Ihr Tonni verkauft habt. Es war in etwa so groß wie Eure Faust, nicht wahr?“

„Ja.“

„Von wem hattet Ihr es?“

„Von niemandem.“ Ich blinzelte. Ich hatte langsam das Gefühl, in etwas geraten zu sein, das eine Nummer zu groß für mich war. „Ich will damit sagen: Niemand hat es mir gegeben. Ich habe es erfunden. Das war nur so ein windiges Ding, das ich gebaut habe, um Geld von einer Kru zu bekommen.“

„Und was macht es?“.

„Es soll Tiere analysieren und ihre Lebenserwartung vorhersagen.“

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Sie stand da, verschränkte ihre Arme und rieb sich das Nasenbein. „Bei den Federn des Raben!“, murmelte sie. Sie tat mir beinahe leid. Dann fiel mir wieder der Blick ein, mit dem sie mich anfangs bedacht hatte. Sie hatte mich angesehen wie eine Falte, die es wegzubügeln gilt.

„Ich habe mir vor allem Sorgen um Momo gemacht.“, erklärte ich. „Ich weiß nicht, was Tonni widerfahren ist, nachdem sie das Gerät an sich nahm. Es tut mir leid.“

„Momo?“

„Meine Moa.“

Die Norn kniete vor mir nieder. Damit hatte ich nicht gerechnet. Große Menschen machen das eher selten. „Entweder seid Ihr eine ausgezeichnete Schauspielerin“, sagte sie und sah mir in die Augen, „oder ich schulde Euch Abbitte.“

Ich rieb mir das Handgelenk. „Ich wäre schon mit einer Erklärung zufrieden.“

„Ihr könnt mich Alfhildr nennen.“ Ihr Lächeln wirkte gezwungen. „Bevor ich die Angelegenheit aufkläre, würde ich gerne Momo sehen.“

In mir schrillten die Alarmglocken. „Wieso?“

„Weil ich Euch womöglich sagen kann, wieso Euer Gerät nicht richtig funktioniert hat. Außerdem seid Ihr und Eure Tiergefährtin meine einzige Spur.“